Dr. med. Marco Marano ist Facharzt für Orthopädie und Traumatologie sowie für Sportmedizin und betreute Athletinnen und Athleten an den Olympischen Spielen 2024 in Paris. In diesem Interview spricht er darüber, was Olympioniken von Amateursporttreibenden unterscheidet und wieso das richtige Mindset bei einer Verletzung fast am wichtigsten ist.
Dr. Marano: Es war eine Erfahrung, die mich mitten in das Herz der sportlichen Elite führte. Das hat mich mit grosser Freude erfüllt. Es war ein aufregendes Abenteuer, denn es ermöglichte mir den täglichen Kontakt zu Spitzensportlern, die ich noch am Vortag im Fernsehen verfolgte und dann während der Spiele plötzlich selbst betreute. Ich bin Sportarzt, aber auch ein grosser Sportfan; diese Erfahrung hat mich geprägt und wird mich für den Rest meines Lebens begleiten.
Dr. Marano: Aus rein beruflicher Sicht war ich dank meiner Ausbildung bereits gut vorbereitet: In Lugano betreue ich die Hockey- und die Fussballmannschaft, allerdings ohne mich mit kritischen, hochakuten Situationen auseinandersetzen zu müssen. Genau das wurde mir dann bei den Olympischen Spielen abverlangt.
Als Sportarzt bei den Olympischen Spielen ist Unmittelbarkeit gefragt: Man muss alles sofort managen. Das war der Unterschied zu dem, was ich normalerweise in Lugano mache. An den Spielen muss man sofort reagieren, denn die Athleten treten quasi in Echtzeit an. Und das ist der wirklich spannende Test: das Problem sofort zu beurteilen und zu behandeln. Das ist definitiv anders als alles, was ich in meiner beruflichen Tätigkeit im Tessin normalerweise erlebe.
Dr. Marano: Als medizinischer Partner von professionellen Hockey- und Fussballmannschaften haben wir vielErfahrung mit Sportverletzungen bei Spitzensportlern. Daher konnte ich mich gerade durch diese tägliche Praxis auf die Behandlung von Verletzungen vorbereiten, mit denen ich mich in Olympia konfrontiert sah.
Dr. Marano: Ergänzend zu allem bereits Gesagten hat der olympische Athlet eine ganz besondere Eigenschaft: Er oder sie gibt den Wettkampf so gut wie nie auf. Es sind Athleten auf höchstem Niveau, die nach vielen Jahren harter Arbeit am Ziel ihrer Träume angekommen sind. Nicht teilzunehmen, steht für sie fast nicht zur Debatte. Bei der Behandlung stellt sich also in erster Linie die Frage, wie man den verletzten Athleten in den Wettkampf zurückbringen kann. Das ist der eigentliche Unterschied zum klassischen Amateursporttreibenden.
An Olympia ist es so, als würde man stets einen Tag vor einem wichtigen Mannschaftsfinale leben – drei Wochen lang.
Dr. Marano: Es gab einige denkwürdige Momente, von denen ich mich an einen besonders gut erinnern kann: Als ich einmal um 6.30 Uhr zur Arbeit kam, fand ich mich mitten in der Gold-Party der französischen Rugby-Mannschaft wieder, und es war wirklich ein grosser Spass! Oder wie könnte ich die allgemeine Aufregung bei den Spielen vergessen? Beispielsweise mit Federica Pellegrini und mit Marsel Jacob (100m-Athlet) ...
Ich erinner emich auch an den Besuch bei der Athletin Khadija El Mardi, Weltmeisterin im Schwergewicht 2023 und die erste afrikanische, arabische, marokkanische Frau, Mutter von drei Kindern, die eine Goldmedaille im Boxen gewonnen hat. Sie erzählte mir von ihrem Lebensweg und was das Gewinnen für sie bedeutet hat. Auch erklärte sie mir, was es bedeutet, aus einem arabischen Land zu kommen und eine Frau zu sein und wie sie sich dafür einsetzt, in ihrem Land Zentren für Frauen zu eröffnen, wo diese Sport treiben können. Und von der Enttäuschung, als sie es nicht schaffte, ihren Traum vom Olympiasieg zu verwirklichen. Sie sprach von ihrem Vater, der sie zum Sport getrieben und unterstützt hatte: Er war kurz vor den Olympischen Spielen verstorben.
Von Geschichten wie diesen leben die Olympischen Spiele. Sie zeugen von der Stärke der Athleten, der Athleten, die aus teilweise Ländern kommen, in denen es nicht immer leicht ist, Sport zu treiben. Nur Athleten mit viel Hartnäckigkeit können es so weit zu bringen.
Dr. Marano: Im Grunde genommen haben wir einfach versucht, das zu tun, was wir auch bei unserer täglichen Arbeit im Tessin tun. Wie wir bereits gesagt haben, waren die im Sportzentrum Ars Medica gesammelten Erfahrungen sehr wertvoll.
Dr. Marano: Ich denke, dass die Sportmedizin, die mit Spitzensportlern praktiziert wird, sozusagen auf Messers Schneide steht: Wir gehen immer sehr weit, was die von uns empfohlenen Behandlungen und das Management von Verletzungen angeht.
Im Laufe der Zeit gelingt es uns dann, die Behandlungen, die wir mit Spitzensportlern durchführen, in die tägliche Praxis zu übertragen. Amateursportler profitieren von der Erfahrung, die wir mit Spitzensportlern machen. Die Arbeit mit dem Spitzensport hilft uns somit sehr in der täglichen Arbeit und viele Patienten merken auch, dass sich unser Ansatz von dem der Ärzte unterscheidet, die ihn nicht praktizieren.
Dr. Marano: Mehr als über technische Innovationen möchte ich gerne über das alle zugrundeliegende Mindset und Konzept sprechen, das ich gerne wiederhole: Die olympische Erfahrung lässt einen verstehen, dass oft Willenskraft und der Kopf sehr viel ausmachen. Diesen Ansatz verfolgen wir auch mit unseren Patienten.
Dr. Marano: Wie bereits erwähnt, verstärkt die olympische Erfahrung das Verständnis, dass oft der Wille und das richtige Mindset den Unterschied ausmachen. Indem man ein Ziel wie die Olympiade verfolgt, kann man Situationen relativieren, die im Alltag unüberwindbar erscheinen.
Unsere Patienten müssen verstehen, dass eine Verletzung manchmal auch dabei hilft, zu wachsen. Wir sollten nicht nur die negativen Seiten sehen. Eine Verletzung ist ein Ereignis, das uns näher zu uns selbst bringt. Wir lernen uns besser kennen und können letztlich die Messlatte vielleicht sogar noch etwas höher legen im Wissen, dass wir uns noch ein wenig mehr anstrengen können.